TOLERANZ
Wir setzen uns für eine fortschrittliche Toleranz ein.
Der Begriff Toleranz wird von woken Aktivisten häufig verwendet. Meistens stellen sie sich als Kämpfer gegen Intoleranz dar. Gleichzeitig verhalten sie sich selbst intolerant gegenüber Kritik.
Darin besteht keine Doppelmoral, denn Intoleranz gilt in dieser Sichtweise nur dann als problematisch, wenn die jeweilige Intoleranz systemische Machtstrukturen und Unterdrückung stärken kann. Bestimmte Arten von Intoleranz werden daher akzeptiert (z.B. gegenüber weißen Menschen im Antirassismus, TERFs im Queer-Aktivismus).
Der woke Umgang mit Toleranz folgt einer aktivistischen Logik der Denunziation: Wer sich Unterdrückung nicht aktiv widersetzt, gilt selbst als ein Komplize der Unterdrückung.417 Diese Sichtweise auf Toleranz greift auf Vorstellungen des Philosophen Herbert Marcuse zurück.418
Der neulinke Philosoph Marcuse sah 1965 die „repressive Toleranz“ als Form einer unparteiischen Toleranz: Eine unparteiische Toleranz schütze die etablierte Maschinerie der Diskriminierung und Machtausübung (beispielsweise Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen). Der unparteiischen Toleranz setzt Marcuse seine „befreiende Toleranz“ entgegen: Befreiende Toleranz bedeutet Intoleranz gegen alles, was zur Unterstützung des ungerechten Status quo verwendet werden könnte. Laut Marcuse sei es notwendig, repressiv gegen vermeintlich rückschrittliche Bewegungen vorzugehen, die sich den progressiven Zielen widersetzen:
„Dass rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, dass Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten) - diese antidemokratischen Vorstellungen entsprechen der tatsächlichen Entwicklung der demokratischen Gesellschaft, welche die Basis für allseitige Toleranz zerstört hat.“ 419
Marcuses Vorstellungen über Befreiung, Unterdrückung und Demokratie legitimieren ein repressives Vorgehen: Da systemische Macht sich immer selbst erhält und progressive Bewegungen bedroht, sollen fortschrittliche Aktivisten auch Mittel verwenden dürfen, die vom System abgelehnt werden.420 Eine „befreiende Toleranz“ soll sich daher auch mit Gewalt gegen vermeintliche Intoleranz wehren dürfen.
Um solch repressive Verhaltensweisen zu rechtfertigen, wird häufig Karl Poppers berühmtes „Toleranzparadox“ instrumentalisiert. Der Philosoph Popper warnte davor, dass unlimitierte Toleranz (gegenüber Intoleranz) notwendigerweise zum Verschwinden von Toleranz führen müsse. Popper sah Intoleranz jedoch nur als letztes Mittel, denn Intoleranz dürfe nur eingesetzt werden, wenn die andere Seite Gewalt einsetze. Diese engen Grenzen von Poppers Rechtfertigung für Intoleranz werden von woken Aktivisten ignoriert. Aus deren Sicht rechtfertigen bereits problematische Sichtweisen Intoleranz.421
Bestimmte Bestandteile der postmodernen Philosophie legitimieren diese Tendenz zur Intoleranz. Aus postmoderner Sicht wird die Gesellschaft häufig als ein Spiegelbild verschiedener Diskurse betrachtet: Um das System zu erhalten, seien dominante Diskurse von Eliten geschaffen worden, die sich dadurch ihren gesellschaftlichen Einfluss sichern.
Inspiriert von dieser Sicht auf das System können bereits Thesen, die dominante Diskurse stützen könnten, als Form der Unterdrückung angesehen werden. Durch diese extrem weitgefasste Sicht auf Unterdrückung sowie der Betonung von Schutzbedürftigkeit legitimieren woke Aktivisten ihre Intoleranz (siehe Cancel-Culture, Schutz und epistemische-Gewalt).