KONFLIKT
Durch Identitätspolitik sollen gesellschaftliche Konflikte gelöst werden.
Als „Konflikttheorie“ wird eine bestimmte Sichtweise auf die Gesellschaft bezeichnet, in der verschiedene soziale Gruppen in einem intrinsischen Kampf um gesellschaftliche Ressourcen stehen.241 Konflikttheorien betrachten die Gesellschaft als inhärenten Nullsummenkampf zwischen Gruppen, wobei typischerweise eine Gruppe als „privilegierter Unterdrücker“ und alle anderen als „marginalisierte Unterdrückte“ dargestellt werden.
Die Erfinder des Marxismus, Karl Marx und Friedrichs Engels,sahen den Kampf der proletarischen Arbeiterklasse gegen ihre wirtschaftliche Ausbeutung durch die kapitalistische Bourgeoisie als den Kernkonflikt der Gesellschaft an. Die Aufhebung dieses ökonomischen Konflikts sollte im klassischen Marxismus zur Utopie einer klassenlosen Gesellschaft führen.242 Als jedoch die klassisch-marxistischen Ideologien zum Terror des Leninismus, des Stalinismus und schließlich auch zum Terror des Maoismus führten und bereits in den 1920-er Jahren alle proletarischen Revolutionen in kapitalistischen Ländern gescheitert waren, wurde vielen Marxisten zunehmend bewusst, dass die ursprüngliche marxistische Theorie fehlerhaft sein musste. Obwohl sie mit den gesellschaftlichen Entwicklungen frustriert waren, konnten sich diese Marxisten damals nicht vorstellen, dass ihre marxistische Ideologie im Ganzen falsch war. Daher suchten sie nach denkbaren Erklärungen, um ihre kommunistischen Utopien doch noch zu verwirklichen.
Neomarxistische Theoretiker kritisierten nun insbesondere die deterministische Geschichtsauffassung von Marx: Marx habe fälschlicherweise geglaubt, dass das Proletariat sich durch eine gemeinsame Identität vereinigen werde, wie Marx dies mit seinem berühmten Slogan: „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!“ gefordert hatte.243 Um Marx in dieser Hinsicht zu korrigieren, wurden Erklärungen entwickelt, wie unterdrückte Menschen durch falsches-Bewusstsein manipuliert werden. Anstatt die marxsche Konflikttheorie gänzlich zu verwerfen, wurde diese in Kritischen-Theorien weiterentwickelt. Neben der ökonomischen Ausbeutung waren es nun vor allem kulturelle Faktoren, die das kapitalistische System aufrechterhalten (siehe Sozialisation und Neue-Linke). Neuentwickelte Konflikttheorien, in der Regel auf der Basis identitätsbasierter Konflikte, wurden schließlich von der CRT -Aktivistin Kimberlé Crenshaw im Konzept der Intersektionalität zusammengefasst.244
Heute hat diese identitätsbasierte, intersektionale Sichtweise die klassisch-marxistische Sichtweise beinahe vollständig abgelöst. Nur selten spielt die marxistische Klassenfrage durch ein Lippenbekenntnis zum sogenannten „Klassismus“ noch eine Rolle. Befreiung aus angeblich intrinsischen Konflikten verspricht heute die Ideologie der Sozialen Gerechtigkeit. Für die Befreiung sollen sich alle Personen zu Solidarität verpflichten.245
Die woken Kritischen-Theorien sind nahezu gleich aufgebaut wie die ursprüngliche marxistische Theorie. Als schematisches Beispiel sollen die Parallelen zwischen klassischem Marxismus und woken Antirassismus dienen. Mithilfe dieses Schemas lassen sich alle neulinken Theorien als neue Spielarten der neomarxistischen Konflikttheorie erfassen (siehe Postkolonialismus, Klimagerechtigkeit, Queer -Feminismus, Postmigrantische-Gesellschaft, Muslimfeindlichkeit, Kritische-Pädagogik):
Die privilegierte Klasse der (Bourgeoisie/Weißen…) hängt einer Ideologie bezüglich (Klasse/Rasse…) an: Wer Teil der privilegierten Klasse ist, weil er (bourgeoise/weiß…) ist, erhält dadurch besonderen Zugang zu (Kapital/Privilegien…), von dem die unterdrückte Klasse der (Arbeiter/BIPOCs…) ausgeschlossen wird. Um diesen privilegierten Zugang aufrecht zu erhalten, rechtfertigt sich die privilegierte Klasse der (Bourgeoisie/Weißen…) mit einer Ideologie namens (Kapitalismus/Rassismus…). Diese Ideologie bestimmt die gesamte Struktur der Gesellschaft. Alles, was jemand sein kann, hängt von seiner Position in der (klassenbasierten/rassistischen…) Struktur ab und wird vollständig durch (Klasse/Rasse…) bestimmt. Diese (kapitalistische/rassistische…) Ideologie wird als dominantes Narrativ überall in der Gesellschaft verbreitet. Dadurch wird der privilegierten Klasse der (Bourgeoisie/Weißen…) vorgegaukelt, dass sie ihren besonderen Zugang zu (Kapital/Privilegien…) verdient hätten. Die unterdrückte Klasse der (Arbeiter/BIPOCS…) hat keine Macht, direkten Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Das Ziel des (Marxismus/ des Antirassismus…) besteht darin, Bewusstsein in der Gesellschaft zu wecken, damit eine Revolution geschehen kann, wodurch die Ungleichheit der (klassenbasierten/rassistischen…) Gesellschaftsordnung überwunden wird.