STANDPUNKT-THEORIE

Die Standpunkt-Theorie legt dar, warum Privilegierte ihre Privilegien nicht erkennen.

Die Standpunkt-Theorie (auch Standpunkt-Epistemologie) entstand als Teil von feministischen Theorien in den 1970er Jahren.401 Das Prinzip hinter der Standpunkt-Theorie geht auf Hegels „Herr-Knecht-Dialektik“ zurück: Während ein Herr die Welt nur als Herrenwelt erlebe, erlebe ein Knecht zusätzlich zur Herrenwelt auch die Welt der Sklaven. Der Knecht habe daher eine andere Sichtweise auf die Gesellschaft (ein doppeltes Bewusstsein).402

Die Standpunkt-Theorie besagt, dass die soziale Positionierung im System einen besonderen Zugang zu Wissen verleihen kann. Daher hätten feministische Frauen einen tieferen Einblick in die Wirklichkeit, da sie die Wirkungen des Patriarchats durch ihre persönliche, gelebte Erfahrung erkennen können.

Seit den 1970er Jahren wurde dieser feministische Ansatz weiterentwickelt: Verbunden mit der postmodernen Sicht auf Wissensformen ging es nun nicht mehr darum, lediglich Bewusstsein für die Situation von Frauen zu erlangen. Als neues Ziel sollte ein möglichst intersektionales Bewusstsein entwickelt werden.

Unter der Voraussetzung, dass Unterdrückte sowohl ihre Unterdrückung als auch die Wahrheit an sich besser verstehen, ergibt sich die woke Standpunkt-Theorie kaleidoskopisch aus der Identität: Bestimmte Identitäten bieten einen speziellen Einblick in (schwarze, indigene, queere etc…) Wissensformen. Wer diesen speziellen Zugang aufgrund seiner Privilegien nicht besitzt, soll den Standpunkt der Marginalisierteren anerkennen.403

Dabei reicht eine marginalisierte Identität für Erkenntnis nicht aus; man muss auch über ausreichend Bewusstsein verfügen. Alle nicht ausreichend woke Personen sind in dominanten Sichtweisen gefangen; möglicherweise leiden sie an verinnerlichter Unterdrückung (siehe falsches-Bewusstsein).404

Die Standpunkt-Theorie bildet einen nützlichen Gate-Keeping-Mechanismus, durch den woke Aktivisten ihre Expertise rechtfertigen können.