EPISTEMISCHE GEWALT

Von eurozentristischen Wissensformen geht epistemische Gewalt aus.

Von der Politikwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela:

„Dominante Diskurse bringen jene zum Schweigen, die auf der anderen Seite der Wahrheit, Rationalität, Universalität und Wissenschaft stehen. Eine kritische Praxis muss dagegen in der Lage sein, das Nichtgedachte der dominanten Diskurse zu denken, und denen zuzuhören, die zur Zielscheibe epistemischer Gewalt werden“. 133

„Epistemische Gewalt“ bzw. „epistemische Ungerechtigkeit“ beschreibt eine Form von Gewalt, welche die Unterdrückung marginalisierter Gruppen durch dominante Diskurse problematisieren soll. Wie bei allen anderen Formen von Unterdrückung auch sind primär die vermuteten Auswirkungen auf die Betroffenen relevant. Überprüfbare Tatsachen spielen weniger eine Rolle.

Das Konzept „Epistemische Gewalt“ geht auf den Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak zurück.134 In ihrem Aufsatz widmete sich Spivak dem angeblich erzwungenen Schweigen der sogenannten „Subalternen“: Den unterdrückten Subalternen werde durch koloniale Herrschaft die Fähigkeit, für sich selbst zu sprechen, auf jeder Ebene genommen – unter anderem durch die Zerstörung ihrer Wissens, Glaubens- und Sprachsysteme.135 Das Konzept der epistemischen Gewalt ist mittlerweile Teil des postkolonialen Mainstreams, indem ein sehr weitreichender Gewaltbegriff verwendet wird. Besonders kritisch betrachtet man dort vorgeblich neutrale Kriterien wie Rationalität, Universalität, Wahrheit und Wissenschaft.

Aus neulinker Sichtweise stellt der Kampf um (epistemische) Autorität einen grundlegenden Konflikt dar: Dominante Gruppen unterdrücken angeblich systematisch die Erfahrungen und Wissensformen marginalisierter Gruppen.136 Dies geschieht nicht aus sachlichen Gründen oder durch Zufall, sondern durch böswillige Absicht: Marginalisierte Wissensformen würden nämlich dominante „eurozentrische Sichtweisen“ gefährden, von denen dominante Gruppen profitieren (siehe Privilegien und Standpunkttheorie). Angeblich können marginalisierte Gruppen nie auf fairem epistemischem Terrain sprechen, was mittels Allyship, Dekolonisierung und Dekonstruktion geändert werden soll.137