POSTMIGRANTISCHE GESELLSCHAFT

Die postmigrantische Gesellschaft bildet das Leitbild für die Integration.

Der Begriff Postmigrantisch wird im Glossar von IDA e.V. definiert:

„Der Begriff postmigrantisch beschreibt eine Gesellschaftsordnung, die von Migration gekennzeichnet ist. Politische, kulturelle und soziale Veränderungen einer Gesellschaft werden nicht mehr isoliert von Migrationsbewegungen betrachtet, sondern vielmehr als durch Migration (mit)bedingt verstanden. Das Präfix „post“ deutet darauf hin, dass gesellschaftliche Aushandlungsprozesse innerhalb einer postmigrantischen Gesellschaft nicht während, sondern nach der Migration erfolgen. Die heterogene Zusammensetzung der Gesellschaft wird politisch anerkannt, sodass ihre Strukturen und Institutionen in Nachhinein also (postmigrantisch) an die Migrationsrealität angepasst wird… So zeigt sich in nahezu allen Staaten Europas der Kernkonflikt postmigrantischer Gesellschaften, nämlich der Konflikt zwischen der Befürwortung und Ablehnung einer pluralen und heterogenen Gesellschaft, die im Zuge von Migrationsbewegungen entstanden ist.“ 339

Das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft geht auf die Sozialwissenschaftlerin, Politikberaterin und Aktivistin Prof. Naika Foroutan zurück, deren Definition von IDA e.V. übernommen wird.340 Foroutan bezeichnet sich selbst als „partielle Aktivistin“. In einem Podcast mit dem Titel „Die Stärke eines partiellen Aktivismus“ äußerte sie sich sehr erfreut darüber, dass viele Akademiker wissenschaftliches und aktivistisches Handeln „nicht mehr so hart trennen“ würden.341 Foroutans Vision ist es, mittels einer postmigrantischen Perspektive das „Verhältnis zwischen Migration, Gesellschaft und Vielheit neu zu denken und den Blick auf […] Lebenswirklichkeiten zu richten, in denen Migration zum Ausgangspunkt des Denkens wird.“ 342

In Foroutans postmigrantischen Gesellschaft soll Migration zum Ausgangspunkt einer Analyseperspektive werden, um „über den Migrationsmoment hinauszublicken (…) auf Aushandlungen, die mit diesem empirischen, narrativen und diskursiven Akt einhergehen.“ 343 Das „Post“ von postmigrantisch soll als Aufforderung zur Dekonstruktion dominanter Migrationsnarrative verstanden werden.

Genau wie in der postkolonialen Sichtweise gilt eine Ablehnung von Migration als Rassismus. Deutsch ist laut Naika Foroutan jeder, der auf deutschem Gebiet wohnt.344 Grenzkontrollen würden Privilegien der herrschenden Klasse sichern und eine angeblich kapitalistisch verursachte Ungleichheit gegenüber dem sogenannten globalen Süden aufrechterhalten (siehe Nationalismus).

Sozio-ökonomische Fakten belegen jedoch, dass wegen der Einwanderung in die Sozialsysteme die tatsächlich gemessene Ungleichheit in Deutschland zunimmt.345 Mit grotesken Rassismusvorwürfen dekonstruiert der postmigrantische Diskurs die migrationsbedingt ansteigende Ungleichheit: Die Schuld trage die rassistische Aufnahmegesellschaft, die durch Unterdrückung den Migranten ein angeblich abgegebenes Teilhabeversprechen verwehre (siehe CRT). Dieses angebliche Versprechen bildet die „subversive Ebene“, welche von Naika Foroutan als „normativer“ Zugang bezeichnet wird.346 Der normative Zugang soll Prozesse des Ausschlusses sichtbar machen und eigene identitätspolitischen Ansprüche mittels politischer Aushandlungen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft durchsetzen (siehe Inklusion). Politisch soll die kommunistische Utopie der „Gleichheit für alle“ verwirklicht werden und mithilfe von postmigrantische Allianzen vollstreckt werden (siehe Selbstorganisationen).

Als kulturelles Metanarrativ soll der Begriff Integration aufgrund des Paradigmenwechsels dienen: Weg von angeblich gewalttätigen Anforderungen hin zu einem „ausgeweiteten Integrationsbegriff“, der den Fokus nicht auf die Kompatibilität der Migranten, sondern auf die Transformation der gesamten Gesellschaft legt.347 Die bisher gebräuchliche Verwendung von Integration (Eingliederung von Migranten durch Eigenanstrengung in die vorhandenen Strukturen der Gesellschaft) wird dabei auf den Kopf gestellt.

Infolge dieses Paradigmenwechsels werden im Namen der Integration politische Maßnahmen begründet, die dem Ziel von klassischer Integration zu 100% widersprechen: Alle Integrationsleistungen sollen als Anpassungen durch die Dominanzgesellschaft erbracht werden; Integrationsvorstellungen, die Anpassungen, Leistung und Integrationswille von Migranten verlangen, gelten als rassistisch, da sie angeblich auf eine problematische Assimilation hinauslaufen.348 Nun sollen Experten aus der Wissenschaft bestimmen, wie Deutschland infolge der Postmigrantisierung als „plurale Gesellschaft der Vielen“ aussehen soll (siehe Aushandlungen).

Insgesamt 52-mal erscheint in Foroutans Aufsatz „Was will eine postmigrantische Gesellschaftsanalyse?“ das Wort „Gleichheit“, was hierbei immer Gleichstellung bedeutet. Bei Gleichheit geht es nicht um Gleichberechtigung, sondern um Sonderrechte für Ergebnisgleichheit. Die postmigrantische Vision betrachtet sogenannte „Repräsentationslücken“ nicht als Integrationsdefizite von Migranten, sondern als Integrationsdefizite der Mehrheitsgesellschaft.349 Als Repräsentationslücke gilt potenziell jede statistische Unterrepräsentation eines angeblich marginalisierten Kollektivs in einem bestimmten Bereich (siehe Chancengerechtigkeit). Angebliche Lücken in wirtschaftlichen, akademischen, medialen und politischen Bereichen sollen durch identitätspolitische Quoten behoben worden. Als Beispiel nennt Foroutan den geringeren Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Bereichen wie Journalismus oder Politik: Dort seien strukturelle Veränderungen überfällig (sogenannte „Öffnungen“).350 Als ersten Schritt fordert Foroutan Quoten für Bundestag und den Öffentlichen Dienst für Personen mit Migrationshintergrund.

Im Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung fordert Naika Foroutan „Reeducation-Programme“ für die deutsche Bevölkerung:

„Mit Pluralität umgehen zu können ist keine Selbstverständlichkeit. Bei vielen pegelt es sich durch die Alltagskontakte ein, bei vielen – vor allem bei denen, die diese Erfahrungen nicht machen – aber auch nicht. Also muss man das beibringen, so wie wir in Deutschland es durch das große Reeducation-Programm der Alliierten beigebracht bekommen haben, nicht mehr so antisemitisch zu sein wie vor dem 8. Mai 1945.“ 351

Große Teile der Gesellschaft sollen umerzogen werden, um sie in die neudeutsche postmigrantische Gesellschaft zu integrieren. Die Rassismusforschung soll weiter gestärkt werden; überall sollen Antirassismus-Trainings implementiert werden.

Der Kampf gegen Rassismus soll mit dem Kampf gegen den Klimawandel verbunden werden (siehe Klimagerechtigkeit). Die Regierung habe dafür zu sorgen, dass ein visionäres Gleichstellungsversprechen (Gleichheit für alle) politisch festgeschrieben wird:

„So wie Fridays for Future ein visionäres Klimaziel vorgegeben haben, müsste ein Anti-Rassismus-Pakt mit Gleichstellungszielen bis 2030 formuliert werden, an dem sich die zukünftigen Regierungen messen und monitoren lassen müssen.“ 352