DEKOLONISIERUNG
Die Lehrpläne in Deutschland müssen dringend dekolonisiert werden.
Der Sozialwissenschaftler Dr. Sebastian Garbe beschreibt Dekolonisierung folgendermaßen:
„Die Forderung nach einer „Dekolonisierung“ ergibt sich aus der Diagnose, dass unsere Gegenwart bis heute von kolonialen Strukturen geprägt ist. Politische, kulturelle, aber auch intellektuelle (nicht nur akademische) Perspektiven und Bewegungen, welche das Fortbestehen dieser kolonialen Verhältnisse kritisch in den Blick nehmen und ihre Überwindung anstreben, können als „dekolonial“ beschrieben werden. Im Gegensatz zur formalen Entkolonisierung vieler Regionen unter ehemaliger europäischer Herrschaft – in Lateinamerika zu Beginn des 19. sowie in Afrika, Asien und der Karibik ab Mitte des 20. Jahrhunderts – strebt „Dekolonisierung“ die Loslösung von kolonialen Verhältnissen in ihren ökonomischen, politischen, kulturellen, epistemischen, (inter-)subjektiven, vergeschlechtlichten und ökologischen Dimensionen an. Dabei werden die kolonialen Kontinuitäten sowohl im Globalen Süden als auch im Globalen Norden herausgefordert.“ 90
Im dekolonialen Aktivismus wird fast alles als (neo-)kolonial problematisiert; insbesondere wird untersucht, wie sogenannte „koloniale Kontinuitäten“ aus der Zeit des Kolonialismus gesellschaftliche Diskurse prägen.91 Gemäß dem peruanischen Aktivisten Aníbal Quijano durchdringen koloniale Verhältnisse „alle Bereiche der sozialen Existenz“.92
Laut dem postkolonialem Soziologen Sousa Santos kann es keine Theorie der Dekolonisierung ohne Praxis geben.93 Für diese Praxis soll eine sogenannte „eurozentristische Produktionsweise“ von Wissen überwunden werden, weil diese einen sogenannten „Epistemizid“ bedeute (siehe epistemische Gewalt).94 Dekoloniale Aktivisten versuchen daher, alle gesellschaftlichen Wissensbereiche, speziell die Bildungssysteme, Medien, Verwaltung, Politik und die Wissenschaft, zu dekolonisieren.95
Laut der Professorin Fatima el-Tayeb gilt es,
„den Lehrplan aus einer dekolonialen feministischen Perspektive zu transformieren.“ Dabei geht es darum, „die koloniale Vorstellungskraft zu unterbrechen; zu lernen, indem man die verinnerlichte Vorherrschaft des Weißseins verlernt.“ Dekolonisierung bedeutet für el-Tayeb, „die Art und Weise, wie Wissensproduktion und pädagogische Praktiken den weißen, männlichen und eurozentrischen Kanon perpetuieren, aus einer intersektionalen feministischen und dekolonialen Perspektive zu demontieren.“ 96
Der Prozess der Dekolonisierung erfordert gesamtgesellschaftliche Transformationen. In der Regel wird die westliche Kultur als ein koloniales System angesehen, in dem sich überall koloniale Kontinuitäten verbergen. Der westlichen Tradition, bildlich verkörpert durch die sogenannten „alten, weißen Männer“, wird vorgeworfen, mit ihren Wissensbeständen alternative Wissenformen zu marginalisieren und neokoloniale Unterdrückungsverhältnisse zu perpetuieren (siehe Wissenschaft, Befreiung und Postkolonialismus).97
Neben der Demontage des etablierten Kanons umfasst Dekolonisierung auch Forderungen nach sofortigen Reparationen, was mit dem Ausruf „Dekolonisierung ist keine Metapher“ ausgedrückten werden soll.98 Eine vollständige Dekolonisierung der USA würde auf eine komplette Umstrukturierung der USA hinauslaufen, da die weißen amerikanischen Siedler den Ureinwohnern ihr Land gestohlen hätten.
Dekoloniale Aktivisten beziehen sich in ihren Vorstellungen häufig auf den postkolonialen Vordenker Frantz Fanon: Fanon erklärte 1961 in seinem Werk „Die Verdammten der Erde“, dass die Dekolonisierung mit Gegengewalt gegen die Kolonialherren verbunden sein muss.99 Bei Fanon bildet die dekoloniale Gewalt eine Art Brücke zu echter Emanzipation.
Nach dem Ende der europäischen Kolonialzeit nehmen viele dekoloniale Theoretiker Partei ein gegen den israelischen Staat: Das jüdische Israel gilt für sie als letzter weißer Kolonialstaat in europäischer Tradition.100 Häufig wird Israel sein Recht auf Selbstverteidigung verweigert und Terrorbewegungen wie die Hamas werden als Widerstandsbewegungen verharmlost. Da Israel als weißes, koloniales Projekt betrachtet wird, soll es zugunsten eines arabischen Staates verschwinden, was einen Genozid an Millionen Juden ermöglichen könnte. Wenig überraschend wurden die islamistischen Massaker des 07. Oktobers von einigen dekolonialen Akademikern als ein Akt der Dekolonisierung gedeutet.101