AUSHANDLUNGEN
Aktive Aushandlungen prägen den Alltag in der postmigrantischen Gesellschaft.
Aus Sicht von Prof. Naika Foroutan bilden sich in einer postmigrantischen-Gesellschaft durch Aushandlungsprozesse neue Hegemonien aus:
„Die aktive Aushandlung von Rechten und Privilegien geht immer auch mit gesellschaftlichen Konflikten einher, die durch die Diskrepanz zwischen Akzeptanz und Ablehnung der gestellten Forderungen auftreten: Migranten und ihre Nachkommen verlangen mehr repräsentative, sichtbare Positionen in Politik, Kultur, Sport, öffentlichen Räumen etc., wobei die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft in Frage gestellt werden. Konfliktive Aushandlungen führen zunehmend zur Positionierung innerhalb von Gesellschaften und zur Herausbildung von Pro- und AntiDiversitätsidentitäten. Die bisher hierarchisch konstruierten Konzepte von Werten und Normen werden durch zunehmende Diversität und vor allem durch Hybridität herausgefordert. Zeitgleich wird aufgrund der sich radikalisierenden Gegenpositionen der Ruf nach Antidiskriminierungsgesetzen und anderen Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten und zum Schutz der pluralen Demokratie lauter. Innerhalb dieses Konfliktes eröffnet sich aber auch die Chance, neue, rivalisierende diskursive Hegemonien zu gestalten, die auf der Grundlage des Versprechens der Gleichheit basieren und damit auf moralischer Ebene den Diskurs antreiben. Der Kampf um die Etablierung des Gleichheitsanspruches aber muss stets als ein Kampf ohne sicheren Ausgang betrachtet werden, in welchem Minderheiten etablierte Strukturen grundlegend in Frage stellen.“ 33
In der Verhandlungsforschung wird das Konzept der „Aushandlung“ von Verhandlungen abgegrenzt: In Verhandlungen sind Akteure untereinander bekannt, die „jeweils formulierten Interessen werden gegenseitig als legitim verstanden und Akteure agieren strategisch.“34 In Verhandlungen wird das Ziel in der Regel zu Beginn festgelegt; der Verhandlungsprozess dient einem Ausgleich von Interessen und soll gemeinsame Handlungsfähigkeit erreichen.
Von klassischen Verhandlungen lassen sich die offeneren Aushandlungen abgrenzen. In Aushandlungen müssen die Ziele nicht vorher festgelegt sein; es geht auch nicht unbedingt um einen Interessensausgleich.35 Laut Prof. J. Oltmer geschieht bei diskursiven Aushandlungen Folgendes:
„Mit der Aushandlung wird der diskursiv bearbeitete Gegenstand variabel, entwickelt eine Eigenlogik, verschiedene Bedeutungen gewinnen unterschiedliche Relevanz, die Aushandlung selbst verschiebt Grenzen des Sagbaren, führt oder zwingt Akteure zu Handlungen, wenngleich vor dem Hintergrund einer unterschiedlichen Ausstattung der beteiligten Akteure manche Produkte im Kontext des Aushandlungsprozesses wahrscheinlicher sind als andere. Dennoch ist weder die Karriere der in Aushandlung befindlichen Substanz vorhersehbar noch der Zeitpunkt oder die Formen beziehungsweise Mechanismen der Stabilisierung und damit das vorläufige Stillstellen eines Aushandlungsprozesses. Die Aushandlung führt insofern zu einem Ergebnis, als im Konflikt oder im Konsens ein Gegenstand der Aushandlung hergestellt wird und Bedeutungen der Begriffe, die den Gegenstand oder einzelne Teilgegenstände bezeichnen, produziert werden. Akteuren wird zudem eine soziale Position zugewiesen. Eine Gesellschaft oder ein Teil einer Gesellschaft verständigt sich also, bietet Sinngebungsangebote, ordnet Gegenwart und Zukunft.“ 36
Gemäß Prof. J. Oltmer beschreiben Aushandlungen Prozesse, in denen Bedeutungen und Sinngebungen sowie neue soziale Positionen entwickelt werden. Dadurch wird der bisherige soziale Status-Quo grundlegend infrage gestellt. Passend dazu sieht Prof. Wimmer Kultur als „Resultat eines Prozesses des Aushandelns von Bedeutung zwischen kulturell geprägten, aber zur reflexiven Hinterfragung und Innovation fähigen Individuen (…).“ 37 Kultur wandle sich durch neue Aushandlungen von den bisherigen kulturellen Setzungen.
Aushandlungsprozesse beinhalten transformatorische Veränderungen. Woke Aktivisten wollen ihre politischen Vorstellungen durchsetzen, indem sie die gesellschaftlichen Normen neu bestimmen (siehe Sozialisation). Häufig wird der neuausgehandelte Status quo zugleich wieder zum Ausgangspunkt neuer Aushandlungen. Besonders gravierend sind woke Aushandlungsprozesse bereits im Bereich Wissenschaft.38
Aber auch in vielen andere gesellschaftlichen Bereichen finden zurzeit Neuaushandlungen statt, ohne dass die Öffentlichkeit den Veränderungen zustimmen kann (siehe Demokratie, Klimagerechtigkeit, Dekolonisierung, Pädagogik, Integration und Zivilgesellschaft). Dieses Lexikon soll einen Beitrag dazu leisten, diese Prozesse zu erkennen, indem wichtige woke Diskurse erklärt werden.